Wanderratten haben keinen guten Ruf. Aber wer mehr über sie weiss, kommt rasch zum Schluss, dass es sich bei ihnen um sehr interessante Tiere handelt.
Wanderratten verströmen andere Gerüche, wenn sie hungrig sind. Artgenossen können das riechen und versorgen die Hungernden dann rasch mit Futter. Das berichten Schweizer Forscher und Forscherinnen in einer neuen, interessanten Studie.
Wanderratten als soziale Tiere teilen das Futter und putzen sich gegenseitig das Fell. Um an Futter zu kommen, „betteln“ Wanderratten bei ihren Artgenossen mit Rufen und Gesten. Die unterscheidende Information, wer wirklich Futter benötigt oder nur so tut, liefert der Geruch. Denn hungrige Ratten riechen offenbar anders als satte, schreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Fachjournal „Plos Biology“.
In einem Experiment versorgten Wissenschaftler der Universitäten Bern, Neuenburg und Potsdam Ratten mit Geruchssignalen entweder von hungrigen oder satten Artgenossen, die sich in einem anderen Raum aufhielten. Die Ratten konnten anschliessend einer anderen anwesenden Ratte Hilfe leisten, rascher an Futter zu kommen, indem sie ein Tablett mit Futter zu dieser hinzogen.
Karin Schneeberger von der Universität Bern erklärt:
„Wir stellten fest, dass die Ratten schneller Hilfe leisteten, wenn sie Geruchssignale von einer hungrigen Ratte erhielten als von einer satten Ratte.“
Ihr Kollege Gregory Röder von der Universität Neuenburg untersuchte danach die Luft in der Umgebung der Ratten. Er identifizierte sieben verschiedene flüchtige organische Verbindungen, die je nachdem entweder bei einer hungrigen oder einer satten Ratte häufiger zu finden waren.
Diese Geruchssignale könnten nach Ansicht der Forschenden direkt von kürzlich aufgenommenen Nahrungsquellen, von Stoffwechselprozessen bei der Verdauung oder von einem mutmaßlichen Pheromon stammen, das Hunger anzeigt.
Karin Schneeberger sagt dazu:
„Im Gegensatz zu Rufen und Gestik ist es unwahrscheinlich, dass die Ratten diese Gerüche zu ihrem Vorteil steuern und somit die andern täuschen können. Damit stellen sie für die Artgenossen eine ‚ehrliche Information‘ bereit, auf die sich diese verlassen können.“
Quelle:
https://science.orf.at/stories/3200416/
https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3000628
Kommentar & Ergänzung zum Beitrag über Wanderratten:
Die Natur wird oft als Vorbild und Lehrmeisterin aufgefasst. Das ist aber ein heikles Unterfangen. Denn in der Natur kann man immer das finden, was man gerne herauslesen möchte. Die Lehre der liegt gar nicht so klar auf der Hand.
So kann man in der Natur sehen, dass der Stärkere den Schwächeren frisst. Diese Beobachtung wurde im Sozialdarwinismus politisch missbraucht. Er interpretiert missbräuchlich Teilaspekte des Darwinismus in Bezug auf menschliche Gesellschaften um und spielte auch im Nationalsozialismus eine wichtige Rolle.
Mehrere Grundannahmen des Sozialdarwinismus sind nicht von Charles Darwins (1809 – 1882) Theorie gedeckt und werden von der modernen Wissenschaft als überholt angesehen. Die Übertragung von Darwins Theorien auf menschliche Gesellschaften lässt sich weder zwangsläufig aus Darwins Werk ableiten, noch entspricht sie im Entferntesten Darwins Welt- und Menschenbild.
Darwins Begriff vom Survival of the Fittest wird im Deutschen häufig falsch übersetzt. Er meint nicht körperliche Fitness im Sinne der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern die reproduktive Fitness im Sinne der Anpassungsfähigkeit einer Art an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen.
Der Sozialdarwinismus übersieht, dass in der Natur auch altruistischer Verhaltensweisen weit verbreitet sind und sich meist positiv auf die evolutionäre Fitness einer Art auswirken. Ein früher Kritiker herkömmlicher sozialdarwinistischer Theorien auf der Basis einer Theorie der Kooperation war der Anarchist und Geograph Pjotr Alexejewitsch Kropotkin mit seinem 1902 erstmals erschienenen Buch Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Schon Kropotkin bemerkte, dass Darwin “the fittest” nicht als den körperlich stärksten oder klügsten definiert, sondern erkannt hat, dass die Stärkeren diejenigen sein könnten, die miteinander kooperieren. (Quelle: Wikipedia)
Und für diese Kooperation im Tierreich als Erfolgsmodell bietet die Wanderratte ein interessantes Beispiel – wie auch diese Studie zeigt.
In der Natur findet man also immer, was man sucht.
Wer an das Vorrecht der Stärkeren glaubt, findet dafür Beispiele, wer an die Macht der Kooperation glaubt aber genauso.
Deshalb ist es ratsam vorsichtig zu sein mit dem Vorsatz, der Natur gemäss zu leben. Oder man sollte jedenfalls darüber nachdenken, was genau man in der Natur als Vorbild wählen will.