In letzter Zeit scheint sich die Ansicht zu verbreiten, dass alle klassischen Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen lügen, während die Wahrheit im Internet zu finden ist.
Das halte ich für eine krasse Täuschung.
Zu mindestens bei Qualitätsmedien gibt es noch so etwas wie einen Faktencheck und Journalistinnen und Journalisten, die sich vertieft in ein Thema einarbeiten.
Dabei kommt es auch zu Fehlern und Unzulänglichkeiten. Aber es gibt mindestens das Bemühen um Faktentreue.
Im Internet existieren jedoch Tausende von Websites und Blogs, die sich um Faktenchecks drücken und überwiegend Phantastereien und Hirngespinste verbreiten.
Im Gesundheitsbereich kann ich das gut beurteilen. Es wird massenhaft Bullshit ins Netz gestellt. Und im Bereich der Politik ist das nicht anders.
Das Internet hat den „Vorteil“, dass jede und jeder die „Wahrheit“ findet, die zu den eigenen Weltbildern und Einstellungen passt. Und dieses Zusammenpassen wird oft bequemerweise als Bestätigung aufgefasst, dass die betreffende Info wahr sein muss.
Mir fällt beispielsweise auf, wie aggressiv, diffamierend und oft völlig frei von Argumenten in den Kommentarbereichen der Qualitätsmedien über die Berichte oder die Autorinnen und Autoren hergezogen wird.
Ein Teil dieser aggressiven Kommentare geht auf das Konto der Trollfabrik in St. Petersburg oder ähnlicher „Institutionen“ und ist orchestrierte und bezahlte Kreml-Propaganda.
Aber ein anderer Teil dieser Kommentare ist echt. Wertvoll sind Kommentare, die auf Fehler hinweisen oder eine andere Meinung einbringen, und dazu Argumente liefern.
Das ist aber in den wenigsten Fällen der Fall.
Beweggrund der meisten Kommentare scheint die Empörung darüber zu sein, dass ein Text nicht die eigenen Einstellungen und Weltbilder transportiert, sondern ihnen möglicherweise gar widerspricht. Das können Menschen, die sich hauptsächlich in Nischen des Internets bewegen, die genau auf ihre Weltsicht zugeschnitten sind, offenbar schwer ertragen. Jeder Widerspruch scheint als fundamentaler Angriff auf das eigene Glaubenssystem empfunden zu werden.
Das kann ich gut mit Kommentaren in diesem Blog illustrieren.
Beispiel: Heute eingetroffener Kommentar auf den Beitrag
„Krebsmittel Amygdalin / Vitamin B17: Oft propagiert, aber unwirksam“:
„Was für ein Idiot bist Du so ein Schwachsinn zu schreiben, wie viel Geld hast du dafür bekommen.“
So läuft das nicht selten, wenn ich einen kritischeren Beitrag zu irgendeinem Bereich der Alternativmedizin schreibe und die Aussagen selbstverständlich mit Argumenten zu begründen versuche.
Es kommen Beschimpfungen ohne Fakten, ohne Argumente – und die Formulierungen lassen meistens vermuten, dass die Poster den Text, auf den sie reagieren, gar nicht vollständig gelesen haben, sondern auf ein Reizwort reagieren und dann sofort los schiessen – praktisch immer anonym und oft mit einer Wegwerfmailadresse.
Nachfragen, wie der Absender zu einer solchen Ansicht kommt, ein Dialog also, bei dem ich mich durch glaubwürdige Argumente auch überzeugen lassen würde – ist so nicht möglich und auch nicht erwünscht. Es kommt offenbar nur darauf an, absolute Empörung loszuwerden, weil ein Glaubensystem in Frage gestellt wurde.
Das beschriebene Beispiel ist nicht so wichtig – solche Kommentare bekomme ich regelmässig und ich lösche sie umstandslos.
Viel brisanter ist der Vormarsch dieser Beschimpfungs- und Diffamierungs-Unkultur im gesellschaftlich-politischen Bereich.
Wie politisch und psychisch krank muss man sein, um das schöne, berührende Foto der kleinen Dunja auf Facebook mit der Bemerkung zu kommentieren, ein Flammenwerfer wäre die bessere Lösung (schauen Sie sich das Foto vergrössert an).
Und wie politisch und psychisch deformiert muss man sein, um eine 90-jährige KZ-Überlebende zu verspotten und zu diffamieren (Bericht im „Focus“ hier)
Da öffnet sich ein „Giftschrank“, der Fragen aufwirft nach den Hintergründen, die solche Entgleisungen möglich machen.
Einige Aspekte in diesem Zusammenhang beleuchtet die neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur sogenannten „Querfront“.
Hier ein Zitat daraus:
„Die medialen Veränderungen, vor allem angetrieben von der digitalen Revolution, sind grundlegend und betreffen viele Aspekte. Der wichtigste Punkt: Je mehr Parteien, Verbände, Stiftungen, Initiativen, politische Akteure oder soziale Gruppen ohne Filter oder Vermittlung durch Dritte ihr Publikum direkt im Netz suchen und je erfolgreicher sie dabei sind, desto stärker zerfällt das, was eine funktionierende Demokratie so dringend benötigt: eine gemeinsame Öffentlichkeit. Die ‚Erfolge’ im Digitalen haben also auch Schattenseiten.
Auf einen Aspekt sei hier hingewiesen, da er im direkten Zusammenhang mit dieser Studie steht: Viele im Netz kursierende ‚Informationen’, Deutungen und Einschätzungen sind meist nur Behauptungen, die keiner nachvollziehbaren seriösen Qualitäts- und Quellenkontrolle unterzogen werden. Das Fundament, auf dessen Basis berichtet oder diskutiert wird, ist zuweilen eher porös als stabil. In dieser digitalen Welt ist es längst gängiger Alltag, dass viele Akteure grundlegende Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, aber auch politische Orientierungsbegriffe wie rechts und links und schließlich Streitbegriffe wie Elite und Volk oder Freund und Feind fast beliebig mit eigenen Inhalten füllen und nach Gutdünken einsetzen. Vor diesem Hintergrund wiegt es noch schwerer, dass die traditionellen Medien, die sich der Aufgabe der Qualitätssicherung und Orientierung zu stellen haben, kontinuierlich nicht nur an Auflage und Reichweite, sondern bei ihrem breiten Publikum auch an Reputation und Vertrauen verlieren.“
Die Studie können Sie hier einsehen oder herunterladen.
Empfehlenswerte und unterstützungswürdige Websites zum Thema:
– Kampagne Stoppt Hasspropaganda
– Mimika – Internationale Koordinationsstelle zur Bekämpfung von Internetmissbrauch und zentrale Anlaufstelle für Internetnutzer, die verdächtige Internetinhalte melden möchten.
– DULDEN.NET reagiert auf Fälschungen und Hass-Propaganda im Bereich der Politik. Facebook-Seite dazu hier:
– Fundierte Broschüre zum Umgang mit Hate-Speech und Kommentaren im Internet (36 Seiten), herausgegeben von der Amadeu Antonio Stiftung.
– No-Nazi.Net. Broschüre „Digitale Handlungsstrategien gegen Rechtsextremismus„. der Amadeu Antonio Stiftung. Facebookseite dazu hier.
– Blogbeiträge, Links und Infosammlung zum Thema Hasspropaganda im Internet.
– Violence Prevention Network, Deutschsprachiges Portal zu Prävention und Deradikalisierung von Rechtsextremismus, Islamismus und Salafismus.
Ausserdem:
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz