Verlagsbeschreibung
Sie ist die Basis für jede Kommunikation. Und weder die Wissenschaft noch unser Rechtssystem oder unsere Demokratie sind ohne sie denkbar: die gemeinsame Überzeugung, dass „wahr“ und „nicht wahr“ nicht dasselbe sind. Was jedoch, wenn Einzelne oder ganze Gruppen diesen Konsens aufkündigen, wenn die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge – mutwillig oder nicht – verwischt wird? Genau das aber scheint gerade zu geschehen. Nicht mehr nur in den Untiefen des Internets, sondern sogar von manchen Regierungen werden Fakten und „alternative Fakten“ als scheinbar gleichberechtigt behandelt. Wo diese aber nicht mehr unterschieden werden, gerät unweigerlich die Wahrheit selbst unter Rechtfertigungsdruck. Wozu brauchen wir sie eigentlich? Und gibt es sie überhaupt? Rainer Erlinger denkt über die Bedeutung der Wahrheit für unser tägliches Leben und die Gesellschaft nach. Aus philosophischer, aber auch persönlicher und politischer Sicht zeigt er, warum es unverzichtbar ist, sich an sie zu halten.
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Zum Autor Rainer Erlinger
Rainer Erlinger, geboren 1965, ist Mediziner und Jurist. Heute arbeitet er als Publizist vor allem auf dem Gebiet der Ethik. Über viele Jahre verfasste er die populäre wöchentliche Kolumne „Die Gewissensfrage“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). Er hat zahlreiche erfolgreiche Bücher publiziert, darunter „Höflichkeit. Vom Wert einer wert losen Tugend“ (2016) und zuletzt „Wie umwerfend darf ein Lächeln sein? 111 Gewissensfragen rund um die Liebe und das Leben“ (2018).
Kommentar von Martin Koradi
Dieses kleine Buch von 143 Seiten hat mich sehr angesprochen. Der Autor schreibt verständlich, klar und mit Substanz. Rainer Erlinger versteht es, komplexe philosophische Komzepte nachvollziehbar darzulegen und in Bezug zur Gegenwart zu setzen. Er zeigt auf, wie das Aufgeben der Orientierung an Wahrheit Demokratie und Rechtsstaat gefährdet.
Im archaischen Rechtssystem wurde per Zweikampf oder durch ein Verfahren des „Gottesbeweises“ entschieden, wer in einem Streitfall recht hat. Im alten burgundischen Recht des 11. Jahrhunderts mussten konnte ein Beschuldigter seine Unschuld beweisen, indem er zwölf Zeugen beibrachte, die schworen, dass er den Mord nicht begangen habe. Sie mussten dem Beschuldigten aber nicht etwa ein Alibi geben oder schwören, dass sie das Opfer noch lebend gesehen hatten. Sie mussten mit dem Beschuldigten verwandt sein und bezeugten im Grunde nur dessen gesellschaftliche Bedeutung. Augenzeugen und Fakten spielten in dieser „Wahrheitsfindung“ keine Rolle.
Erlinger beschreibt nun eindrücklich den grossen zivilisatorischen Fortschritt, der in der Wahrheitsermittlung durch durch Fakten liegt: „Sie verhindert, dass das Recht des Stärkeren sich durchsetzen kann und entscheidet.“
Erlinger bezieht sich auf Michel Foucault, wenn er dazu schreibt: „Die Einführung der Wahrheit, die man nachweisen und überprüfen kann, ist zugleich Voraussetzung für die Demokratie. Worauf sollten sich die Entscheidungen der Bürger sonst gründen? Nur auf soziale Stellung, wirtschaftliche Stärke oder Macht wie beim archaischen Rechtssystem? Das wäre keine echte Demokratie.“
Erlinger weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „Donald Trump, der ja kein besonders ausgeprägtes Verhältnis zur Wahrheit hat, in politischen und juristischen Auseinandersetzungen als wichtigstes und schlagendes Argument für die Unschuld eines von Fakten bedrängten Beschuldigten bringt: «He’s a good man.»“
Da blitzt quasi ein burgundisches Rechtverständnis aus dem 11. Jahhundert wieder auf. Erlinger zieht daher ein ernüchterndes Fazit:
„Man will es ja kaum in dieser Dramatik formulieren, aber man kommt fast nicht umhin: Was wir momentan an etlichen Stellen – und keineswegs bloss im Weissen Haus Trumps – an Umgang mit Fakten und Wahheit beobachten, ist ein Schritt zurück Richtung Mittelalter.“
Rainer Erlinger gelingt es meines Erachtens ausgezeichnet, wichtige Beiträge verschiedener Philosophen zum Wahrheitsthema verständlich zusammenzufassen und miteinander zu verknüpfen:
– Michel Foucault und die Beziehung von Wahrheit und Macht;
– Bernhard Williams, der in seinem Buch „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ zwei Grundtugenden der Wahrheit unterscheidet: Die ‚Genauigkeit’ und die ‚Ehrlichkeit’.
Genauigkeit umfasst das Interesse und Bestreben, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und damit eine wahre Überzeugung zu formen. Ehrlichkeit besteht darin, das Geglaubte auch so zu sagen.
– Harry G. Frankfurt, der einen Bestseller über „Bullshit“ geschrieben hat. Während der Lügner genauso wie der ehrliche Mensch noch eine Vorstellung der Wahrheit hat, weiss der Bullshitter nicht, ob wahr ist oder falsch, was er behauptet, und es ist ihm auch vollkommen egal. Bullshit ist keineswegs harmloser als die Lüge, sondern im Gegenteil desstruktiver und darum verwerflicher. US-Präsident Doanld Trump liefert dazu fast täglich Anschauungsmaterial.
– Hannah Arendt hat wichtige Gedanken formuliert zum Thema Wahrheit und Lüge in der Politik, zu Propaganda und Totalitarismus. Erlinger zitiert Arendt aus „Die Lüge in der Politik“:
„Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den grossen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht. Er hat seine Schilderung für die Aufnahme durch die Öffentlichkeit präpariert und sorgfältig darauf geachtet, sie glaubwürdig zu machen, während die Wirklichkeit die unangenehme Angewohnheit hat, uns mit dem Unerwarteten zu konfrontieren, auf dass wir nicht vorbereitet waren.“
Wohin die Verachtung der Tatsachen führt, hat Arendt in ihrem grossen Werk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ beschrieben. Erlinger zitiert Arendt daraus so:
„Bevor die Massenführer die Macht in die Hände bekommen, die Wirklichkeit ihren Lügen anzugleichen, zeichnet sich ihre Propaganda durch bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt aus. In dieser Verachtung drückt sich bereits die Überzeugung aus, dass Tatsachen nur von dem abhängen, der die Macht hatte, sie zu etablieren.“
Rainer Erlinger hat ein kleines, aber ergiebiges Buch geschrieben.
Im Bayerischen Rundfunk sagt Erlinger zum Thema:
„Wir müssen diesem Verlust der Wahrheit, dieser Erosion, die ja oft schleichend geht, über Übertreibungen, über falsche Wortwahl, über Beschönigungen, über Abwertungen der Wortwahl, dem müssen wir Einhalt gebieten und sagen, nein, wir bestehen darauf, dass man zum einen die Wahrheit sagt und zum anderen sie auch richtig ausspricht.“ (21. 1. 2019)
Er schreibt aber in seinem Buch auch:
„Manchmal muss man sich fragen, ob das Hauptproblem beim Umgang unserer Gesellschaft mit Lüge und Wahrheit gar nicht so sehr darin besteht, dass so viel gelogen wird, sondern vielmehr darin, dass sich die Menschen so bereitwillig belügen lassen. Zeitweise kommt man sich vor wie in «Des Kaisers neue Kleider»“
Damit werden auch die Empfänger von Falschmeldungen in die Verantwortung genommen.
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde am Seminar für Integrative Phytotherapie in Winterthur (Schweiz) und Leiter von Kräuterwanderungen und Kräuterkursen.
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