Das „Philosophie-Magazin“ hat im Juni 2016 eine Sonderausgabe publiziert zu Hannah Arendt (1906 – 1975 ), der angesehenen politischen Denkerin und Theoretikerin.
Interviewt wird darin auch Antonia Grunenberg. Die frühere Professorin für Politikwissenschaft an der Carl von Ossietzki-Universität in Oldenburg gründete dort das Hannah Arendt-Zentrum, das sich der Erforschung des Nachlasses von Hannah Arendt widmet.
Im Gespräch kommt Antonia Grunberg auch auf die bei Hannh Arendt wichtigen Themen Totalitarismus und Propaganda zu sprechen.
Zitat Grunenberg:
„Arendt hat das Thema, wie sich totalitäre Elemente auch in Demokratien herausbilden, in späteren Werken immer wieder umkreist. Zum Beispiel die systematische Lüge, die mit der totalitären Ideologie verwandt ist. Die findet sich nicht nur im Totalitarismus, sondern auch in demokratischen politischen Ordnungen. Als Beispiel nimmt Arendt hier die amerikanische Propaganda während des Vietnamkrieges. Ihre Funktion ist es, Arendt zufolge, die Urteilsfähigkeit von Bürgern zu neutralisieren. Die systematische Lüge im politischen Raum hat das Potenzial, das politische Leben und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zu beschädigen. Ein aktuelles Beispiel ist die Art und Weise, wie der russische Propagandaapparat gezielte Desinformation betreibt, mit dem Ziel, den Westen zu spalten und letztlich die Frage nach dem, was richtig oder wahr ist, überflüssig zu machen.“
Gefragt, wie man gegen solche Gefahren ankommt, sagt Antonia Grunberg:
„Arendt zufolge – und ich glaube, sie hat damit nach wie vor recht – besteht die einzige Chance gegen diese Tendenzen in der Regeneration einer starken politischen Öffentlichkeit. Und das ist eine Aufgabe, die jeden Einzelnen betrifft. Dass sich Bürgerinnen und Bürger zusammentun und die Republik verteidigen, zur Verfassung stehen, die Grundsätze weiterentwickelnm, nach denen wir leben und die unseren Freiheitsraum ausmachen.“
Kommentar & Ergänzung:
Nach Hannah Arendt gehört die Lüge zur Politik wie zu anderen Lebensbereichen auch. Hier redet sie aber – und dass ist entscheidend – von der systematischen Lüge im politischen Raum.
Arendt sieht das Problem des Totalitatrimus nicht nur vom Lügner her, sondern auch von den Untertanen:
«Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion und der Unterschied zwischen wahr und falsch nicht länger existieren.»
Zitat aus: Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“
Neben der systematischen Lüge wird heute ein weiteres Phänomen diskutiert, das ebenfalls brandgefährlich ist: Der systematische Bullshit.
Bullshit gründet in einer Haltung, der es vollkommen egal ist, ob eine Aussage wahr ist oder nicht. Während ein Lügner nicht lügen kann, ohne die Wahrheit zu kennen, ist Wahrheit für den Bullshiter keine relevante Grösse. Als erster in diesem Sinne beschrieben wurde „Bullshit“ vom Philosoph Harry G. Frankfurt in einem kleinen Bändchen, das folgerichtig auch den Titel „Bullshit“ trägt.
Systematischer Bullshit ist mindestens so gefährlich wie systematische Lüge. Ein eindrückliches und auch besorgniserregendes Beispiel für einen konsequenten Bullshitter ist der US-amerikanische präsident Donald Trump. Wie weit der Mann auch ein systematischer Lügner ist, lässt sich nicht so leicht feststellen, weil fundamental unklar bleibt, ob er irgendwo noch einen Bezug zur Wahrheit empfindet.
In neuerer Zeit hat der Philosoph Philipp Hübl das Thema „Bullshit“ aufgegriffen. In seinem Buch „Bullshit-Resistenz“zeigt er auf, wie wir resistenter, also widerstandsfähiger werden können gegenüber dem Bullshit, um uns zu schützen.
Seine These lautet:
„Die Verantwortung für die Wahrheit liegt bei jedem Einzelnen. Um die Demokratie und uns selbst vor Bullshit zu schützen, müssen wir selbst resistenter, also widerstandsfähiger werden. Die dafür benötigte Bullshit-Resistenz bedeutet nicht nur, dass wir uns vor Fake News und anderem Unfug schützen, sondern auch, dass wir uns selbst davor bewahren, zum Lügner, Bullshitter oder Trottel zu werden. Insofern steht Bullshit-Resistenz in der Tradition der Aufklärung.“
Zu Hannah Arendt habe ich hier einen weiteren Text geschrieben:
Hannah Arendt: Standnehmen in der Welt statt Weltentfremdung
Übersicht meiner gesellschaftspolitischen Buchempfehlungen und Texte.