Diesem aktuellen Thema widmet die Literaturkritikerin und Autorin Michiko Kakutani ihr Buch mit dem Titel «Tod der Wahrheit – Gedanken zur Kultur der Lüge». Sie kommentiert und analysiert darin kenntnisreich und ansprechend gegenwärtige politische Entwicklungen:
«Im 20. Jahrhundert kamen zwei der ungeheuerlichsten Regimes aller Zeit an die Macht. Beide lebten von der Verletzung und Plünderung der Wahrheit, von dem Wissen, dass Zynismus, Überdruss und Angst die Menschen anfällig für die falschen Versprechungen von Führungsgestalten machen, die nach bedingungsloser Macht streben. Hannah Arendt schrieb in ihrem 1951 erschienenen Buch The Origins of Totalitarianism(dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft): ”Der ideale Untertan der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern der Mensch, für den die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion (das heisst die Realität des Erlebens) sowie die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch (das heisst den Massstäben des Denkens) nicht mehr existieren”.
Beunruhigend ist für den heutigen Leser, dass Arendts Worte sich immer weniger wie eine Nachricht aus einem vergangenen Jahrhundert anhören und immer mehr wie ein schauriges Spiegelbild der politischen und kulturellen Landschaft, in der wir heute leben, einer Welt, in der Fakes News und Lügen nicht nur von russischen Trollfabriken in industriellem Massstab in die Welt gesetzt werden, sondern auch in endlosem Strom aus dem Mund und den Tweets des Präsidenten der Vereinigten Staaten fliessen und sich über die sozialen Medien mit Lichtgeschwindigkeit rund um die Welt verbreiten. Nationalismus, Stammesdenken, Verwirrungstaktik, Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen und der Hass auf Aussenstehende sind wieder auf dem Vormarsch, und gleichzeitig verlieren die Menschen, eingeschlossen in ihre Parteisilos und Filterblasen, zunehmend das Gespür für eine gemeinsame Realität und die Fähigkeit, über gesellschaftliche und konfessionelle Grenzen hinweg zu kommunizieren.»
Michiko Kakutani betont jedoch, dass sie keine direkte Analogie zwischen den heutigen Verhältnissen und den unermesslichen Schrecken aus der Ära des Zweiten Weltkriegs ziehen will. Sie möchte aber einige Bedingungen und Einstellungen betrachten, die Menschen anfällig für Demagogie und politische Manipulation und Staaten zur leichten Beute für spätere Autokraten machen.
Sie untersucht in ihrem Buch, wie die Missachtung von Tatsachen, die Verdrängung von Vernunft durch Gefühl und die Aushöhlung der Sprache den Wert der Wahrheit als solcher vermindern, und was das für Amerika und die ganze Welt bedeutet.
Michiko Kakutani zitiert im weiteren nochmals Hannah Arendt, die 1971 in ihrem Essay Die Lüge in der Politik schrieb:
«Der Historiker weiss, wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen. Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen oder verzerrt zu werden, oftmals sorgfältig verdeckt durch Berge von Unwahrheiten, dann wieder einfach der Vergessenheit anheimgegeben. Tatsachen bedürfen glaubwürdiger Zeugen, um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden.»
Der Zerfall der Wahrheit geht über „News“ hinaus
Kakutani verweist dazu auf den Begriff truth decay («Zerfall der Wahrheit»), mit dem die Rand Corporation die «schwindende Bedeutung von Tatsachen und Analysen» für das öffentliche Leben in Amerika beschreibt. Es gehe auch nicht nur um Fake News, schreibt Kakutani, sondern ebenso um «Fake-Wissenschaft (konstruiert von Klimawandelleugnern und Impfgegnern), Fake-Geschichte (vorangebracht von Holocaust-Revisionisten und jenen, die die Überlegenheit der Weissen propagieren), Fake-Amerikaner auf Facebook ( erschaffen von russischen Trollen) sowie Fake-Follower und Fake-Likes in sozialen Medien (erzeugt von Bots).»
Der Angriff auf die Wahrheit beschränke sich auch nicht auf die Vereinigten Staaten, schreibt Michiko Kakutani:
«Rund um die Welt appellieren Populismus und Fundamentalismus immer stärker an Furcht und Wut als Ersatz für vernünftige Diskussionen, untergraben demokratische Institutionen und ersetzen Fachkenntnisse durch die Weisheit der Masse. Falsche Behauptungen über die finanziellen Beziehungen Grossbritanniens zur EU (die auf einem Kampagnenbus der Brexit-Befürworter verkündet wurden) trugen dazu bei, dass die Abstimmung zugunsten des Brexit ausging, und Russland verstärkte seine Kampagne der Dezinformatsiyaim Vorfeld der Wahlen in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und anderen Ländern, um mit konzertierten Propagandamassnahmen die Demokratien in Misskredit zu bringen und zu destabilisieren…..
Wie konnte es dazu kommen?….Wie wurden Wahrheit und Vernunft zu derart bedrohten Arten, und was lässt ihr drohender Zerfall für den öffentlichen Diskurs und die Zukunft unserer Politik und Regierungsführung erwarten? Das sind die Themen des vorliegenden Buches.»
Zitate aus dem Buch:
«Der Tod der Wahrheit – Gedanken zur Kultur der Lüge», von Michiko Kakutani, Klett-Cotta 2018 (Seite 9 – 12)
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Kommentar & Ergänzung:
Michiko Kakutani greift in ihrem Buch ein brisantes, sehr aktuelles und auch besorgniserregendes Thema auf und beschreibt es packend.
Von mir gibt es dazu folgenden Beiträge:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Zur Bedeutung der Krise von Wissen und Wahrheit für Alltag und Demokratie.
Hannah Arendt: Standnehmen in der Welt statt Weltentfremdung
Die Sorge um intakte Weltbezüge in der modernen Gesellschaft
Und hier eine Übersicht meiner gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.