Das zeigen die empirischen Befunde des italienischen Forschungsinstituts Censis. Demnach wünscht sich inzwischen beinahe jeder zweite Italiener (48 Prozent) einen starken Mann am Ruder. Bei den Befragten mit einem tieferen Bildungsstand und niedrigeren Einkommen sind es sogar über 60 Prozent. Nur ein starker Mann, der die alleinige Verantwortung für die Politik im Land übernimmt, könne ihrer Meinung nach den Wirtschaftsmotor ankurbeln, Arbeitsplätze schaffen und ihnen eine Zukunftsperspektive geben, meinen viel der Befragten. Und dafür wären diese Italienerinnen und Italiener sogar dazu bereit, einen Teil der Demokratie zu opfern, dem starken Mann mehr Macht als dem Parlament einzuräumen und ihn von der Bürde der Wahlen zu befreien.
Die Censis-Studie gibt auch Hinweise auf die Ursachen dieser besorgniserregenden Ergebnisse. Sie macht eine stark verunsicherte Gesellschaft sichtbar. So bangen zwei von drei Italienern (65 Prozent) um ihre Zukunft und fühlen sich von der Politik verraten. Derart äussern sich nicht nur die sozial Schwächeren, sondern auch der Mittelstand. Die mehr und mehr prekären Arbeitsverhältnisse und geringen Löhne versperren sämtliche Aufstiegsmöglichkeiten. Darum haben in den vergangenen zehn Jahren schon 400.000 Italienerinnen und Italiener zwischen 18 und 39 Jahren Italien verlassen.
Das Gefühl der Perspektivlosigkeit und des Frusts erfasst in dem Land zunehmend weitere Gesellschaftsschichten. Der Eindruck, dass sich die Politik allein mit sich befasst, greift immer stärker um sich. Und so kommt es bei vielen Bürgern zur Suche nach einem Ventil, um den aufgestauten Frust abzubauen und ebenso zur Sehnsucht nach einem starken Mann.
Das sind nicht nur abstrakte Umfragewerte.
Verschiedene Medien berichteten über ein Netzwerk von Neonazis, das daran arbeitet, die rechtsextremen und faschistischen Gruppen in ganz Italien zusammenzubringen. Ihr Ziel sei die Gründung einer Nationalsozialistischen Partei Italiens.
Als Rädelsführerin dieses Netzwerk soll die 36-jährige Francesca Rizzi fungiert haben, die in Pozzo d’Adda in der Nähe von Mailand lebt. Sie führt ein unscheinbares Leben und verehrt Hitler. Als besonderes Merkmal hat sich die blondierten Frau auf den Rücken ein großes Tattoo stechen lassen, das einen Reichsadler zeigt, darunter ein Hakenkreuz.
Im russischen sozialen Netzwerk Vk, in dem sich inzwischen auch zahlreiche italienische Neonazis, Faschisten und Identitäre tummeln, wurde Rizzi in diesem Jahr zur „Miss Hitler“ erkoren. Sie selbst bezeichnet sich im Internet als die „schönste Arierin auf der Welt“.
Das sind nicht nur Hirngespinst verwirrter und fehlgeleiteter Individuen. Die rechtsextremen Gruppierungen vermehren sich in Italien und werden immer dreister, als ob sie sich eines gewissen Konsenses in Teilen der Gesellschaft sicher wären. Allein in diesem Jahr sind Ermittler italienweit nicht bloss auf Neonazi-Objekte, Fahnen, Banner und Propagandaschriften gestoßen, sondern immer öfter auch auf umfangreiche Waffenarsenale.
Das alles heisst jedoch nicht, dass es in der italienischen Zivilgesellschaft keinen Widerstand gibt, der sich dem rechtsextremen Gedankengut, der grassierenden Fremdenfeindlichkeit und dem zunehmenden Antisemitismus entgegenstellt. Das zeigt beispielhaft die vor Kurzem ins Leben gerufene Sardinen-Bewegung, die inzwischen fast tagtäglich auf Italiens Plätzen friedlich zusammenkommt. Sie mobilisiert gerade Zehntausende in einzelnen Städten.
Solches Engagement der Zivilgesellschaft reicht allerdings nicht. Notwendig sind auch Entscheidungen und Veränderungen der institutionellen Politik. Denn die zunehmende Frustration in der Bevölkerung wird zum gefährlichen Nährboden, auf dem das rechtsradikale Gedankengut gedeiht und sich immer stärker in die Öffentlichkeit traut. Notwendig sind Perspektiven gerade für junge Menschen. Es geht dabei um soziale Sicherheit und um Jobs, mit denen die Bürger ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Quelle:
https://www.n-tv.de/politik/Italiens-Sehnsucht-nach-dem-starken-Mann-article21444310.html
Kommentar & Ergänzung:
Dass die Zivilgesellschaft in Italien erwacht ist erfreulich, aber es stimmt natürlich auch, dass die Politikerinnen und Politiker liefern müssen, um die Krise zu überwinden.
Wir leben jedoch auch in anderen Ländern in ungewöhnlichen Zeiten. Demokratie und Rechtsstaat werden bei uns möglicherweise von allzu vielen Menschen als Selbstverständlichkeit «konsumiert». Und diese Selbstverständlichkeit geht möglicherweise gerade verloren.
Das bedeutet meines Erachtens:
☛ Für die Wichtigkeit von Demokratie und Rechtsstaat sollte wieder verstärkt Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die politische Bildung muss mehr Gewicht bekommen
☛ Die Gegner und Feinde von Demokratie und Rechtsstaat sind über weite Strecken engagiert und gut vernetzt. Die Freunde und Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat sollten sich ebenfalls vernetzen und Institutionen aufbauen und stärken, die für Demokratie und Rechtsstaat einstehen. Demokratien sterben weniger durch die Stärke ihrer Feinde, sondern durch die Schwäche ihrer Freunde. Sie sterben inzwischen auch weniger durch einen Putsch, sondern durch langsame Erosion.
Hier gibt’s ein paar Bücher, die Informationen liefern zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat:
Buchtipp: “Freiheit verteidigen” von Ralf Fücks
Buchtipp: “Zehn Regeln für Demokratie-Retter”, von Jürgen Wiebicke
Buchtipp: “Über Tyrannei”, von Timothy Snyder
Buchtipp: “Was tun – Demokratie versteht sich nicht von selbst”, von Gabriele von Arnim, Christiane Grefe, Susanne Mayer
Buchtipp: „Jeder zählt“ von Roland Kipke
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.