Komplementärmedizin ist ein vielfältiges, weitläufiges Terrain, in dem es nicht leicht ist sich zu orientieren. Wer versucht, sich zu einzelnen Aussagen oder Verfahren eine fundierte eigene Meinung zu bilden und dazu Pro- und Contra-Argumente abwägt, bekommt nicht selten zu hören, dass halt alles Ansichtssache sei. Damit erübrigt sich dann scheinbar jede Auseinandersetzung und Meinungsbildung.
Ich halte diese Einstellung für ausgesprochen fragwürdig.
Richtig scheint mir zwar, dass eine absolute, endgültige Wahrheit nicht mit Gewissheit erkennbar ist. Von Xenophanes stammt dazu ein interessantes Fragment, auf das Karl Popper mehrfach hingewiesen hat:
„Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden,
Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
(Xenophanes, etwa 570 – 470 v.u.Z., vorsokratischer Philosoph und Dichter der griechischen Antike)
Aber trotz der Erkenntnis, dass eine absolute, endgültige Wahrheit für den Menschen nicht mit Gewissheit zu haben ist, sollte man meines Erachtens darauf bestehen, dass nicht alles nur Ansichtssache sein kann. Soziales Zusammenleben funktioniert nur, wenn die beteiligten Menschen so gut es ihnen möglich ist zu erkennen versuchen, was wahr ist in dieser Welt – als Annäherung an die Wahrheit, ohne endgültige Gewissheit.
Ein Busfahrplan ist keine Ansichtssache. Ein Gerichtsverfahren braucht man gar nicht erst zu eröffnen, wenn es nur Ansichtssache ist. Und über eine Brücke, deren Statikberechnungen nur Ansichtssache sind, würde ich lieber nicht gehen wollen.
Das gilt natürlich auch für den Bereich Komplementärmedizin / Alternativmedizin:
Es ist nicht einfach nur Ansichtssache, ob Zeolith Krebs heilt. Unter Umständen hängt ein Leben davon ab, ob die entsprechenden Behauptungen wahr sind oder nicht.
Es ist nicht einfach Ansichtssache, ob Kardentinktur Borreliose heilt. Unter Umständen hängt die Gesundheit eines Menschen sehr davon ab, ob die entsprechenden Behauptungen wahr sind oder nicht.
Es ist nicht einfach Ansichtssache, ob homöopathische Globuli wirksam sind in der Malaria-Prophylaxe oder nicht. Davon hängt unter Umständen das Leben eines Menschen ab.
Wer alles einfach zur Ansichtssache erklärt, drückt sich meines Erachtens vor dem Aufwand, der damit verbunden ist, wenn man Aussagen und Behauptungen sorgfältig prüfen will.
Zum Stichwort „Ansichtssache“ ein Zitat von Herbert Schnäbelbach:
„Vieles mag Ansichtssache sein, aber eben nicht alles. Die Grenzen der Beliebigkeit werden markiert durch die Ansprüche der Wahrheit und Richtigkeit, die wir erheben müssen, um uns erkennend und handelnd in der natürlichen und sozialen Welt orientieren zu können. Man kann zudem zeigen, dass nur unter der Voraussetzung, dass unsere gemeinsam geteilten Überzeugungen im Wesentlichen wahr sind, intersubjektive Verständigung überhaupt möglich ist; diese Wahrheitsunterstellung garantiert den Sinn unserer Rede….Dass es nicht allein von uns abhängt, was richtig ist oder nicht, machen uns bereits die grammatischen Regeln unserer Sprache deutlich, denen wir folgen müssen, um uns in ihr verständlich zu machen; es gibt keine Privatsprache….Wenn wir meinen, im technischen oder lebenspraktischen Bereich nur dem folgen zu können, was wir ganz privat jeweils für richtig halten, werden wir die Folgen zu spüren bekommen, und deswegen glaubt dies auch niemand im Ernst. Wenn es um Wissen geht, hilft es nichts, hartnäckig zu beteuern, man sei sich einer Sache gewiss, denn die bloss subjektive Sicherheit einer Überzeugung reicht nicht aus, um das zu sichern, worum es im Wissen geht: die Objektivität und Wahrheit des Gewussten.“
Schnäbelbach kommt ein paar Zeilen weiter unten auch auf den interessanten Zusammenhang von Wahrheit und Irrtum zu sprechen:
„Die Möglichkeit des Irrtums ist…gerade das Beste am Wissen, denn nur weil wir uns irren können, können wir unsere Überzeugungen korrigieren und vervollständigen. Dies wäre nicht der Fall, wenn alles wirklich bloss Ansichtssache wäre.“
Wer alles zur Ansichtssache erklärt, negiert die Möglichkeit des Irrtums. Wer aber vor dem Irrtum den Kopf in den Sand steckt wird sich kaum weiterentwickeln und nur schwerlich Neues dazu lernen.
Entscheidend ist daher, wie man zu sorgfältigen Urteilen und fundierten Meinungen kommt, die sich einer vorläufig aufgefassten Wahrheit annähern.
Siehe dazu auch:
Komplementärmedizin – woran erkennen Sie fragwürdige Aussagen?
Tagesseminar:
Komplementärmedizin – Kriterien zur Orientierung im überquellenden Angebot
Quelle der Zitate von Herbert Schnäbelbach:
Herbert Schnäbelbach, Heiner Hastedt, Geert Keil (Hg.):
Was können wir wissen, was sollen wir tun?
RoRoRo Tb 2009, Seite 47/48
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
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