Für die Ausbildung zum Heilpraktiker oder zur Heilpraktikerin gibt es weder Qualitätsstandards noch gesetzliche Regelungen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz, wo anstelle von „Heilpraktiker“ eher von „Naturheilpraktiker“ oder „Naturarzt“ die Rede ist. Entsprechend wird dann auch eher von „Naturheilkunde-Ausbildungen“ gesprochen. In der Schweiz gibt es aufgrund der Volksabstimmung 2009 inzwischen eine Höhere Fachprüfung Komplementärtherapie, die zwar gesetzlich geregelt ist, aber ebenfalls ohne auch nur annähernd fundierte Qualitätsstandards auskommt, und daher eine Qualitätssicherung vorspiegelt.
Wir haben es jedenfalls hier mit einem veritabler Begriffssalat und einem intransparenten Wirrwar zu tun.
Die Zeitschrift „Annabelle“ hat ein Interview veröffentlicht mit der deutschen Autorin Anousch Mueller. Sie wollte Heilpraktikerin werden, doch während der Ausbildung an der Berliner Paracelsus-Schule beschlichen sie immer grössere Zweifel. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben („Unheilpraktiker“, Riemann Verlag 2016)
Zum Interview geht’s hier.
Auch wenn die Kritik hart klingen mag. Sie trifft in einer ganzen Reihe von Punkten glasklar zu.
Zu Recht kritisiert wird meiner Erfahrung nach zum Beispiel:
– Die weit verbreitete, völlig unkritische Glorifizierung von allem, was als traditionelle Naturheilkunde gilt. Tradition hat dann einen Wert, wenn man sich sorgfältig, offen, aber auch kritisch mit ihr auseinandersetzt. Tradition hat jedoch nicht immer Recht. Siehe dazu:
Komplementärmedizin – hat Tradition Recht?
– Das weitgehende Fehlen einer auch nur einigermassen ernstzunehmenden Qualitätssicherung in Ausbildung und Praxis.
– Die nicht selten völlig überzogenen Versprechungen.
– Die Verwendung von Begriffen wie „Energie“, „Schwingungen“, „Ausleitung“ in völlig undefinierter Form, so dass sie willkürlich quasi als „Dienstmagd für alles“ zur Erklärung von x-Beliebigem eingesetzt werden können. Zu Recht sagt Anousch Mueller im Interview: „Wenn etwas nach Geschwurbel klingt, sollte man es kritisch hinterfragen. Das ist meine Botschaft.“
– Verbreitete Indoktrination mit irrationalen Theorien in der Ausbildung.
– Verbreitete pauschale Verteufelung von medizinischen Massnahmen, die in manchen Fällen richtig, wichtig oder gar lebensnotwendig sind (Kortison! Impfen! Chemotherapie!).
Ich will nicht generalisieren. Es gibt auch in diesem Bereich Leute, die ihre Arbeit sorgfältig machen, keine pauschalen Feindbilder gegen die böse „Schulmedizin“ und „Pharmaindustrie“ kultivieren und ihre Grenzen kennen. Aber das sind nach meiner Erfahrung eher die Ausnahmen als die Regel. Und das muss man klar benennen – vor allem, weil diese „Heilerszene“ meistens so sanft, ganzheitlich und menschenfreundlich daher kommt, was leider oft irreführend ist.
Im Interview wird Anousch Mueller gefragt:
„Sie halten die Naturheilkunde für rückständig?“
Antwort:
„Allerdings. Paradoxerweise wird der Schulmedizin ja immer vorgehalten, sie sei rückständig und orthodox. In Wahrheit ist es genau umgekehrt.“
Diese Aussage scheint mir zu pauschal. Sie mag ja vielleicht auf die Erfahrungen der Autorin mit der Paracelsus-Schule zutreffen….
Vor allem liegt dieser Aussage aber meinem Eindruck nach ein unklarer Begriff von „Naturheilkunde“ zugrunde, wie er heute leider weit verbreitet ist. Viele der Methoden, von denen Anousch Mueller im Interview spricht – zum Beispiel Bioresonanz, Kinesiologie, Homöopathie, Bachblüten, Schüsslersalze – gehören nicht zur Naturheilkunde, wenn man den Begriff genau verwendet.
Die Naturheilkunde hat, so wie dieser Begriff entstanden ist, ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Die Idee der Naturheilkunde-Begründer war, Faktoren für die Gesundwerdung direkt aus der Natur zu nehmen. Im Kern bestand diese klassische Naturheilkunde aus dem, was später mit den 5-Säulen der Kneipptherapie umschrieben wurde:
Hydrotherapie (Wasseranwendungen)
Ernährungstherapie
Heilpflanzen-Anwendungen
Bewegung, Luft, Licht
Lebensordnung
Grundsätzlich sind diese fünf Verfahren kompatibel mit Medizin und Wissenschaft. Sie sind wissenschaftlicher Forschung zugänglich, lassen sich mit wissenschaftlichen Begriffen und Theorien beschreiben und allfällige Effekte im menschlichen Organismus sind messbar.
Wenn man nun diese Verfahren genau so anwendet, wie das vor allem im 19. Jahrhundert oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht wurde, dann sind sie tatsächlich veraltet. Zu diesem Blödsinn wird aber niemand gezwungen:
Hydrotherapie lässt sich auf neueren Erkenntnissen begründen und wird dann anschlussfähig an Physiotherapie.
Ernährungstherapie kann sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen (auch wenn Ernährungsstudien oft wenig fundiert sind, siehe dazu: Viele Ernährungsstudien mit wenig Aussagekraft.
Heilpflanzen-Anwendungen sind ein Spezialbereich der Pharmakologie. Pflanzliche Wirkstoffe lassen sich im Labor testen. Effekte von Heilpflanzen-Präparaten können in klinischen Studien an Patienten überprüft werden
Altes Wissen kann so durch neue Forschung bestätigt oder als Irrtum verworfen werden. Diese erneuerte Form der Heilpflanzen-Anwendung nennt sich dann Phytotherapie.
Die hohe Bedeutung von Bewegung für die Gesundheit ist in den letzten Jahren durch zahlreiche Studien dokumentiert worden.
Lebensordnung als angejahrter Begriff kann mit neuen Inhalten gefüllt werden, nennt sich dann vielleicht psychosomatische Medizin oder „Lifestyle-Modifikation“ und gehört zur Psychologie.
Voilà. Wir kommen so vom Methodischen her schon ziemlich nah an eine keineswegs veraltete, sondern zeitgemässe Naturheilkunde.
Was es dann noch braucht für eine seriöse Anwendung sind vor allem Elemente, die mit einer bestimmten Grundhaltung verbunden sind. Zum Beispiel:
– Erkennen von Grenzen der eigenen Methoden.
– Vermeiden von pauschalen Feindbildern und Verschwörungstheorien gegen „Schulmedizin“ und „Pharmaindustrie“ (was nicht Kritiklosigkeit heisst, aber Kritik muss auf Argumenten basieren und konkrete Punkte in Frage stellen).
Siehe dazu auch:
Naturheilkunde-Ausbildung – was Sie wissen sollten (…wenn Sie sich für eine Naturheilkunde-Ausbildung interessieren)
Naturheilkunde: Sorgfältig prüfen lernen
Naturheilkunde-Ausbildung: Mehr kritisches Denken – weniger blinden Dogmatismus
Komplementärmedizin: Genauer Nachdenken, differenzierter argumentieren
Pflanzenheilkunde: Kritische Reflexion statt Missionarismus
Komplementärmedizin: Mehr Argumente – weniger fraglose Gläubigkeit
Mehr Kontroverse in Komplementärmedizin, Naturheilkunde, Pflanzenheilkunde
Komplementärmedizin / Naturheilkunde / Pflanzenheilkunde: Nachfragen statt blind glauben
Naturheilkunde: Selber denken statt blind glauben
Pflanzenheilkunde / Komplementärmedizin: Vom Wert des Zweifels
Naturheilkunde und Medizin – kein Entweder-oder
…….huch, das ist ja ein ganz schöner Marathon, aber er zeigt, dass mir das Thema ernst und wichtig ist.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz